Sonntag, 25. Februar 2018

#tokyo2018 Tokyo Marathon 2018



Der biceps fermoris hielt - bis km 35...


Toller Marathon in Tokio - zwar nicht unter drei Stunden, aber durchgekommen!


Mit dem Tokyo Marathon habe ich am Sonntag den fünften der sechs größten Marathonläufe der Welt, der sogenannten "Major Six", gefinisht. Meiner erster "Major" war Berlin 2011, damals scheiterte ich knapp am Ziel des "Sub3-Marathons", also des Absolvierens der 42,195 km in unter drei Stunden. Das gelang mir in der Folge allerdings immer: Berlin 2012 in 2:56:47, New York 2013 in 2:59:33, Boston 2015 in 2:59:01 und Chicago 2016 in 2:59:47.

Start des Tokyo Marathon 2018 (Foto: Isaak Papadopoulos)
Nun also in Tokyo der erste "Major" seit fünf Jahren über drei Stunden. Ziel verfehlt also? Nein, nicht im geringsten. Ich bin glücklich und zufrieden!

Jetzt aber zur Geschichte des Laufs vom Sonntag:

Was wäre wenn?

Ja, was wäre gewesen, wenn ich mir nicht nach einer Woche Training ein Patellaspitzensyndrom eingefangen, dann eine hartnäckige Muskelverletzung im Beuger meines linken Beins zugezogen und zu guter Letzt nicht noch eine Woche vor dem Marathon am Ende doch noch die "Fregg" bekommen hätte?

Mit Irina Mikitenko, die unsere Gruppe betreute,
bei der Marathonmesse mit meiner Startnummer
"Wenn der Hund nit geschiss hätt, hätt er de Has kritt!" sagt man im Saarland.

Und so ist es.

Am Ende habe ich den Marathon in Tokyo wenigstens durchgezogen, es hätte auch fast zur angestrebten Zeit unter drei Stunden gereicht, aber eben nur fast.

Bei mir überwiegt die Freude darüber, dass ich ordentlich durchlaufen konnte, wenn ich auch am Ende rausnehmen musste, damit der Muskel hält.

In einer verseuchten Vorbereitung, die aber auch ihre Höhepunkte hatte (neun Tage vor dem Marathon zeigte mir meine Trainingsauswertung die besten Fitnesswerte, die ich jemals hatte), nur um dann wieder in tiefste Tiefen zu stürzen (als ich dachte, jetzt käme nur noch "Tapering", schlugen die "Fregg" und der biceps fermoris wieder gandenlos zu) bereitete ich mich eigentlich konsequent vor, aber durch die Verletzungen gelangen mir keine verwertbaren Vorbereitungsläufe (bzw. in einem solchen verletzte ich mich noch am schwersten) und trotz erfolgreicher Gewichtsreduktion (77,5 kg vor dem Abflug waren schon 'ne Nummer, nachdem ich Anfang November 2017 noch 85,6 kg wog) machte mir mein "schwacher Rücken" letztendlich den Garaus.

Unsere interAir-Gruppe morgens vor der Abfahrt zum Start
Die letzte Blockade des ansonsten recht gut geheilten linken Beinbeugers kam nämlich nach Übereinstimmung aller damit befassten Physiotherapeuten aus dem Rückenbereich, wo schwache Muskulatur sowie eine Schonhaltung aufgrund der Verletzungen an Patellasehne und Beinbeuger eine ungute Mixtur ergeben hatten.

Merke: In zukünftigen Vorbereitungen wird das Rückentraining eine wesentlich größere Rolle spielen!

Mittwochs ging's mit der interAir-Reisegruppe nach Japan, Donnerstags kamen wir an, alles war von Achim und seiner Crew perfekt organisiert, das Hotel war klasse, das Programm auch, und so fasste ich doch wieder Mut, zumal ich hier sogar einen guten Physiotherapeuten fand, der die gute Arbeit von Jörg Hüther-Funk fortsetzte und mich am Ende wenigstens so fit machte, dass ich starten konnte.

Freitags machten wir morgens noch einen schönen Lockerungslauf gemeinsam mit Irina Mikitenko, bei dem wir uns auch gleich den Hibiya-Park ansahen, wo wir nach dem Finish hingeleitet werden sollten, und auch in die Nähe des Kaiserpalasts kamen (und damit auch in die Nähe des Ziels).

Der Sumida kurz vor der Mündung in die Bucht von Tokyo - rechts der "grüne Fleck" ist der Hamarikyū-Park direkt bei
unserem Hotel im Shiodome (das schwarze Gebäude, hinter dem man die Spitze des Tokyo Tower sieht) Bild: Bobak Ha'Eri
Später gingen wir zusammen auf die Marathonmesse im Tokyo Big Sight, und auch Samstags wurde es nie langweilig, der Friendship Run und eine schöne Stadtrundfahrt mit Startbesichtigung sorgten für Abwechslung. Highlights dabei waren insbesondere die Fahrten mit der automatisierten Hochbahn-Linie Yurikamome entlang der Hafenkante. Für alle ÖPNV-Arten zusammen gibt's die PASMO-Card, eine wiederaufladbare Prepaid-Smartcard, die die Nutzung fast aller öffentlicher Verkehrsmittel in Japan ermöglicht. Kaufen, nutzen, zurückgeben - supereinfach und sehr nutzerfreundlich!

Die Wolkenkratzer von Shinjuku, wo das Rennen startete, mit dem Mount Fuji im Hintergrund (Foto: Morio)
Bevor ich aber zum Rennen komme, noch einige Worte zu Japan und Tokyo:

Eigentlich habe ich mich für den fernen Osten und seine Kulturen  bisher nie so recht interessiert.

Bald sollte es losgehen!

Erst in den letzten Jahren wuchs meine Neugier, nicht zuletzt wegen des anstehenden Marathons. Jetzt, wo ich hier bin bzw. war, bin ich richtig "angefixt". Das ist ein solch besonderes Land mit soviel interessanten Facetten, dass ich jetzt schon weiß, dass ich zurückkommen werde. Die Leute sind überaus kultiviert, freundlich und hilfsbereit, aber vieles ist halt total anders als bei uns.

Hier in Tokyo wird die Fußgängerampel rot, und alle bleiben stehen, wirklich alle, auch die, die es eilig haben, weil sie genau wissen, dass es in einer so dicht besiedelten und eng getakteten Stadt anders nicht funktioniert.

Mülleimer sucht man im öffentlichen Bereich meist vergebens, trotzdem ist die Stadt äußerst sauber.

Pünktlichkeit, Genauigkeit und Höflichkeit sind hochangesehene Tugenden, die jeder, wirklich jeder lebt und verinnerlicht hat.

Trotzdem gibt es auch hier arme Menschen, auch Obdachlose. Aber auch denen gegenüber begegnet man mit Respekt und Höflichkeit, keiner wird komisch angesehen.

Das Essen ist vielfältig und schmeckt ausgezeichnet. Japan und Tokyo sind echt eine Reise wert!

Helfer gibt's wie Sand am Meer!

Renntag!


Am Marathonmorgen wollte ich eigentlich etwas länger schlafen und erst gegen 06.45 Uhr frühstücken, gegen 07.15 Uhr dann los Richtung Start. Unsere Gruppe frühstückte um 06.15 Uhr und wollte um 06.45 Uhr los. Um genau 6 Uhr wurde ich jedoch wach und mir war sofort klar, dass schon viel zu viel Adrenalin aus den Nebennieren entwichen war, um nochmal einzudösen. Also auf, runter zum Frühstück und dann ging's dann doch mit der Gruppe los.

Ich hatte gut gefrühstückt, mittlerweile ist das schon Routine, und fühlte mich auch recht gut. Mir war aber klar, dass die Situation mit meinen Beinmuskeln, vor allem dem Biceps fermoris links, aber auch den Waden, nicht planbar war.

Ob der "kritische" Muskel 5, 15, 25 oder 35 Kilometer halten würde (oder mit ganz viel Glück vielleicht sogar den ganzen Marathon durch) konnte ich nicht vorhersagen. Die Fitness war ansonsten gut.

Ich entschied mich also für eine Renntaktik, mit der ich knapp unterhalb der Sub3-Durchgangszeiten loslaufen wollte, und dann halt hoffen, dass der Muskel hielt oder wenn nicht, rechtzeitig so rausnehmen, dass ich wenigstens ordentlich durchkam. Das spielte ich nun im Kopf bestimmt hundertmal durch, während wir uns auf den Weg machten.

Wir stiegen in die Oedo-Line der TOEI-Subway ein. Mit der TOEI-Subway kommt man an alle wichtigen Punkte der Innenstadt, also auch zu den Flughäfen Narita und Haneda, zum Tokyo Skytree, nach Asakusa, zum Tokyo Dome, nach Shinjuku, nach Roppongi und zum Tokyo Metropolitan Government Building, wo wir auch hin mussten, denn dort war der Start. Das System ist denkbar einfach, die Stationen schön durchnummeriert, wir mussten in der 19 rein und der 27 raus. Und schon waren wir da!

Ebenfalls beeindruckend: Die freiwilligen Helfer. Von den "Major Six"-Marathons heißt es ja, dass sie die bestorganisiertesten und die mit den meisten "Volunteers" sind. Berlin hat 6.000, Boston 8.000, Chicago 10.000 und New York und London haben je 12.000.

Tokyo hat 24.000, und die sind auserwählt: Auf Wartelisten stehen Hunderttausende.

Die Organisation ist perfekt, teilweise überperfekt: Wo drei Leute genügten, stehen sieben, wo einer reichte, stehen drei. Aber alle sind freundlich, fleißig, aufmerksam - alles flutscht. Die englischsprachigen Helfer tragen Mützen, auf denen "ENGLISH" steht. An alles ist gedacht!

Nichts geht ohne das SECOM-Bändchen
Ins Marathongelände rein kam man übrigens nur mit dem an der Marathonmesse ausgehändigten Bändchen, welches man dann vorzeigen musste. Dann ging's zur Taschenabgabe, zur Toilette (Tipp für empfindliche Teilnehmer: Die meisten Dixi-Klos dort sind zum "Drüberhocken", aber es gibt auch einige "European Style"-Örtchen) und zum Warmlaufen.

Den mitgebrachten, ausgedienten Trainingsanzug meines Freundes Winfried Kramer, der wie ich die "Monnsgrees" hat (meinen Freunden aus dem "Reich" wünsche ich viel Spaß dabei, dieses saarländische Wort zu entschlüsseln, kleiner Tipp: Google ist da machtlos!) und mich daher perfekt versorgen konnte, entsorgte ich kurz danach in einem der bereitgestellten Kleidercontainer.

Die Prominenz startete den Marathon oben...
Kurz vor 9 Uhr stand ich im Startblock, und nach dem Start der Rollstuhlfahrer ging es um 09.10 Uhr los. Natürlich pünktlich!

km 1-5: Durch Shinjuku-City


Wie immer bei solch großen Marathons: Selbst wenn man einen recht frühen Block hat, dauert es doch einige Zeit, bis man über die Startlinie drüber ist.

So konnte ich aber die tolle Atmosphäre aufsaugen, Fönkanonen bliesen Millionen kleine Papierherzen in die Luft, die Musik wummte, und wir trippelten langsam in Richtung Startlinie. 1:34 nach dem Startschuss überquerte ich diese, der erste Kilometer lief noch etwas holprig, weil es recht eng war, aber dann rollte es gleich gut. Die 4:26 vom ersten Kilometer (und damit 11 Sekunden unter Plan) hatte ich schon nach dreien raus und baute meinen Vorsprung auf die Sub3-Zeit kontinuierlich aus. Das Laufen fiel mir auch total leicht, der Muskel schnurrte, und ich war guter Dinge. Kein Wunder: Auf den ersten drei Kilometern geht's ja auch 40 Höhenmeter bergab!

...die Athleten warteten unten (Fotos: Isaak Papadopoulos)
Bei Kilometer 3 kamen wir am Verteidigungsministerium Japans vorbei, die Route führte uns nach Osten in Richtung Chiyoda City, das eigentliche Herz Tokyos mit Kaiserpalast, dem nationalen Parlament, dem Amtssitz des Premierministers sowie zahlreichen weiteren Regierungseinrichtungen.

Nach fünf Kilometern hatte ich mit einer 20:22 schon fast eine Minute Vorsprung auf die angestrebten 21:15 (entspricht 4:15/km).

Ruhig, Brauner! Ich bremste mich etwas ein, auch wenn es mir nicht leicht fiel.

km 6-10: Durch Chiyoda-City


Kurz nach der Fünf-Kilometer-Marke überquerten wir zum ersten Mal den Fluß Kanda, der 26 km lang ist und komplett in Tokyo verläuft, eher er in den Sumida mündet. Er verfügt über einen gigantischen Überlaufarm (zwei Kilometer lang und 13 Meter breit, 40 Meter unter der Straße), der nur bei starken Regenfällen, z.B. bei einem Taifun, geflutet wird, schon mehr als zwölfmal in Betrieb war und seitdem Überflutungen des Kanda vermieden hat.

Schuhauswahl: Anything goes! (Foto: Isaak Papadopoulos)
Es ging nun in respektvollem Abstand von 200-300 m nördlich um das Areal des Kaiserpalastes herum. Sieben Kilometer waren absolviert, meine Geschwindigkeit hatte sich auf 4:10/km eingependelt, alles rollte gut, und ich fühlte mich hervorragend, versuchte aber weiterhin mich ein wenig zu bremsen.

Puls bei knapp über 150, so sollte es auch sein. Wir kamen jetzt durch Jimbō-chō, auch "Book-Town" genannt - hier reiht sich ein Buchladen an den nächsten, und ganz in der Nähe gibt es mehrere Universitäten.

Nun ging es etwas nach Süden, wir näherten uns Chuo City und damit der Zehn-Kilometer-Marke. Obwohl nur knapp zehn km² groß, halten sich in diesem Bezirk, in dem auch unser Hotel lag, am Tag bis zu 650.000 Menschen auf! Hier finden sich die Prachtmeile Ginza und der berühmte Tsukiji-Fischmarkt.

Nun ging's auf eine lange Gerade, und ich war fast erschrocken, als ich meine Durchgangszeit an der Zehn-Kilometer-Marke sah: 41:21! Das war nun selbst mir zu schnell. Ich versuchte mich weiter ein wenig zu bremsen. An der Marke sah ich eine InterAir-Supportergruppe und winkte, alles super!

km 11-15: Ab in den Norden nach Taito-City


Ab Kilometer elf ist der Marathon in Tokyo so angelegt, dass man fast ständig auf der gegenüberliegenden Seite Wettkämpfer sieht, die entweder vor einem liegen oder eben dahinter. Als ich das erstmals wahrnahm, war natürlich die gegenüberliegende Seite noch fast leer - bei km 25, der uns gegenüberlag, sah man allenfalls ab und an einen der Rollstuhlwettkämpfer kommen.

Es ging nun stramm nach Norden, und erstmals merkte ich ein wenig Gegenwind. Trotzdem hielt ich mein Tempo im Bereich um die 4:10/km locker, und zu meiner Beruhigung machte die Muskulatur überhaupt keine Anstalten zu zicken. Ich durfte nur nicht zu oft daran denken. Also lief ich einfach weiter.

Der Sensō-ji-Tempel in Asakusa (Foto: Arcimboldo)
Versuche, das Tempo über die Uhr zu kontrollieren, scheiterten aber: Viel zu ungleichmäßig und ungenau waren die Pace-Angaben, die Uhr maß in diesen Straßenschluchten einfach nicht verlässlich. Meist waren die erfassten vollen Kilometer um 60-80 m zu kurz, selten genau, ab und an auch mal 50 m zu lang.  Hochhäuser killen einfach die GPS-Genauigkeit, das Gerät maß für den Marathon insgesamt 44,15 km und damit fast zwei Kilometer zu viel, so waren natürlich auch die Durchgangszeiten viel zu schnell. Ich drückte daher bei jedem vollen Kilometer die Rundentaste neu. Ärgerlich. Aber meine Splits für 4:15 hatte ich auch so um Kopf, von daher war das nicht so schlimm.

Zwischen Kilometer 12 und 13 überquerten wir zum zweiten Mal den Kanda - diesmal konnte man den nicht überbauten Fluß auch sehen und rechts die Mündung in den Sumida erahnen. Es ging über eine Brücke zunächst leicht hoch und dann leicht runter, aber das bereitete mir keinerlei Probleme.

Bisher hatte ich von dem, was links und rechts der Strecke liegt, noch nicht viel gesehen. Der Kurs ist diesbezüglich auch nicht so spektakulär wie beispielsweise New York, Chicago und Boston. Man sieht halt Straßen und Häuser, davon aber jede Menge. Aber auf ein Highlight liefen wir jetzt zu, kurz vor km 15: Der Sensō-ji, ein buddhistischer Tempel in Asakusa, Tokyos ältester und bedeutendster Tempel, kam in Sichtweite.

Danach ging's einmal um einen Block herum, wir hatten den nördlichsten Punkt des Marathons passiert, und nun kam ich das erste Mal auf die "Gegengerade" - ein völlig neuer Blick eröffnete sich. Schon vorher waren mir Läufer entgegengekommen, eben jene, die schon bei km 16,5 waren, während ich noch bei 13,5 war, aber das waren nicht allzu viele gewesen. Nun kam mir aber das ganze große Feld entgegen. Das war schon ein imposanter Anblick, und das Gefühl: "Du bist schneller als die alle!" verlieh nochmal zusätzlich Flügel!

km 16-20: Sumida und Koto City


Ab jetzt sollten wir bis km 28,5 ständig mit Gegenverkehr laufen: Ich sah z.B. bei km 18 die Spitze nur wenige Meter von mir entfernt, die waren da schon bei km 25. Beeindruckend, diesen Spitzenathleten beim Rennen zuzusehen - das Vergnügen währte halt nur einige Sekunden.

Schwarz-weiß-rot mit blaugelben Spuren...
Wir liefen jetzt entlang des Sumida, bei Kilometer 16 überquerten wir diesen dann zum ersten Mal und gelangten so nach Sumida City, den Stadtteil, der zwischen den großen Flüssen Sumida und Arakawa liegt und in den sich z.B. der Tokyo Skytree befindet, das nach dem Burj Khalifa in Dubai zweithöchste Gebäude der Erde. Das imposante Bauwerk war auch ab und an zu sehen, bei der Überquerung, auf der Kuramae-bashi Brücke erblickte man es links. Den Anstieg hoch auf die und den Abstieg von der Brücke merkte ich schon in den Beinen.

Am Yokoamicho Park, der "spirituellen Heimstatt" des Sumo-Ringsports, ging's dann nach einer scharfen Linkskurve erstmal wieder Richtung Süden, mit ein wenig Rückenwind, das tat gut.

Der Yokamicho Park erinnert mit entsprechenden Denkmälern und -stätten an zwei große Tragödien in der Stadtgeschichte Tokyos: Beim großen Kanto-Erdbeben 1923 flohen 30.000 Menschen in den Park, aber ein dort ausgebrochenes Feuer wuchs sich zu einem Tornado aus, umschloss die Menschen und fast alle kamen in den Flammen um. Und auch der Bombardierung Tokyos 1944 und 1945, der 80-100.000 Menschen zum Opfer fielen, wird in der Reconstruction Memorial Hall gedacht. Die sechs massiven Flächenbombardements, die gegen Tokyo geflogen wurden, sind die verheerendsten Luftangriffe, die während des Zweiten Weltkrieges erfolgten. Hinsichtlich der Opferzahlen und des zerstörten Stadtgebietes stellen sie die schweren Luftangriffe in Europa auf London, Hamburg und auf Dresden bei weitem in den Schatten - verheerender hätten sie kaum sein können. Die Menschenverluste des Luftangriffs auf Tokyo vom 9./10. März 1945 überstiegen sogar die der Atombombenabwürfe auf Hiroshima und Nagasaki fünf Monate später.

Das Erdgeschoss der Reconstruction Memorial Hall erinnert an das Erdbeben, das erste Obergeschoss an die Bombardierungen.

Die nächsten Kilometer waren eher unspektakulär und vom Tempo gleichmäßig. Ich hatte sogar ein wenig auf "Autopilot" geschaltet. Wir näherten uns der 20-Kilometer-Marke und kamen nach Koto City. Wir überquerten noch einen Fluß, den Konaki, zwischen Kilometer 18 und 19. Mein Puls wollte einfach nicht höher und blieb bei knapp über 150. Das sollte sich aber bald ändern.

km 21-25: Halbzeit und Kehrtwende - zurück über den Sumida


Die Polizei lief mit - und hinter Wang Yang aus China her...
(Foto: Isaak Papapopoulos)
Es ging auf zur zweitletzten Wende und hin zur Halbmarathonmarke! Wir befanden uns nun in der Nähe des Tomioka-Hachiman-Schreins, des größten Schreins zu Ehren des Gottes Hachiman, der sowohl im Shintoismus und im japanischen Buddhismus, den beiden größten Religionen Japans, verehrt wird.

Zeit für eine Zwischenbilanz: Mein Puls bewegte sich in der unteren Hälfte der 150er, höher als bei den letzten Marathons zu der Zeit, aber auch nicht höher als beispielsweise 2012 in Berlin. Ich fühlte mich auch immer noch sehr gut, hatte die Wende mit Schwung genommen und bei ziemlich genau 1:28:00 die Halbmarathonmarke passiert (in Berlin damals waren's 1:28:20, in Hamburg über 1:31). Ich versuchte mich auch nach der Halbmarathonmarke zu bremsen, aber die Beine wollten einfach laufen. Trotzdem gelang es mir, jetzt einigermaßen konstante 4:15er-Zeiten pro Kilometer zu laufen.

Es ging auf derselben Strecke zurück, wieder über den Konaki Richtung Sumida. Ich achtete auf die Einhaltung einer gleichmäßigen Geschwindigkeit, das klappte ganz gut, auch wenn ich langsam zu fühlen begann, dass ich schon mehr als die Hälfte des Marathons hinter mir hatte.

Zum zweiten und letzten Mal ging's über den Sumida, und wir betraten wieder Chuo City. Langsam spürte ich auch meine Füße...

km 26-30: Wieder in Chuo City - auf nach Ginza!


Trinken war jetzt wichtig! Bereits seit der 15-Kilometer-Marke hatte ich mir regelmäßig abwechselnd Wasser und ein Iso-Getränk geschnappt, wenn ich an einer der zahlreichen Getränkestationen vorbeigekommen war. Essensaufnahme schenkte ich mir - ich hatte meine PowerGel-Drops in der Hosentasche, alle drei-vier Kilometer gab's ein "Leckerli".

Anfeuerung tat gut - hier die interAir-Fangruppe angeführt
von Irina Mikitenko (Foto: Isaaak Papadopoulos)
Ich war echt guter Dinge, aber ab km 27 merkte ich, dass die Waden doch hart wurden, speziell die linke. Dass das nicht Gutes bedeuten würde, war mir klar, und sofort schlichen sich die Angst vor einem Versagen des Muskels, wie in der Vorbereitung ja schon zweimal erlebt, wieder in den Kopf. Bis dahin hatte ich diese Angst gut verdrängen können.

Ob es nun eine selbsterfüllende Prophezeiung war oder nicht: Ich war nicht überrascht, als der biceps fermoris nach 29 km erstmals einen leichten Stich vermeldete. Ich erschrak trotzdem fürchterlich, konnte aber weiterlaufen und tat das auch. Wir hatten gerade den langen Teil der Strecke mit "Gegenverkehr" verlassen und liefen nun durch Ginza, der Apple-Store war in Sichtweite, gleich sollte es auf die letzte "Schleife" gehen.

Mist! Eingedenk meines komfortablen Vorsprungs auf das Sub-3-Ziel (ich lag auf Kurs 2:57-2:58) nahm ich etwas Tempo raus und lief "nur noch" 4:20/4:25er-Zeiten, aber das brachte nur wenig Linderung. Hätte sonst gereicht für eine 2:59:XX, aber hätte, hätte, Fahrradkette...

Wir kamen nun in die Nähe des Bahnhofs, noch eine Rechtskurve mitten in Ginza, und dann wartete auch schon die 30-km-Marke. Ich lag immer noch 1:57 Minuten vor der Sub3 und rechnete wie wild, aber auch die Vernunft begann in der internen Diskussion lauter zu werden.

km 31-35: Zweifel und Abwägen in Minato-City


Kurz vor einer Linkskurve, ab der uns wieder Läufer entgegenkamen (das waren die mit Endzeiten um die 2:15 Stunden, also nicht gerade furchtbar viele) sah ich dann den Hibuya-Park und wußte, dass ich ganz in der Nähe des Ziels bin - allerdings lag noch eine gnadenlose 11-km-Schleife vor mir, mit Rückenwind auf dem Hin-, aber Gegenwind auf dem Rückweg.

Tapfer lief ich weiter Zeiten zwischen auch mal 4:10, wenn's bergab ging und 4:25 und blieb optimistisch - das würde reichen, wenn ich dieses Tempo durchhalten könnte. Von der "Pumpe" her kein Problem, aber jetzt schmerzte schon nicht nur mehr der linke Oberschenkel, sondern auch schon der rechte. Die Waden waren knüppelhart. "Laufen ist zu 90% Kopfsache, der Rest ist mental!" machte ich mir Mut und rannte wie im Tunnel.

Den Tokyo Tower sah ich bei km 33+39 (Foto: Peter Stratton)
Es war nicht mehr lange bis zur Wende, wir passierten gerade die Höhe unseres Hotels, das einige Straßen ostwärts lag. Gegenüber lag der Shiba Park, an dessen Ende der Tokyo Tower aufragt. Ich erkannte die Stelle - Donnerstags abends waren wir hier noch entlang gewandert!

Ich reflektierte kurz die Qualen und Ungewissheiten der Vorbereitung, war froh und dankbar, dass ich zumindest bis hierher so laufen konnte, wie ich es mir eigentlich vorgestellt hatte. Die Fitness hatte in der letzten Woche schon ein wenig gelitten, erst durch die Erkältung und dann durch die Zwangspause, das merkte ich jetzt. Aber ich war noch guter Dinge. Dann passierte es.

Bei km 34 gab es wieder einen Stich im linken Beinbeuger, diesmal schmerzhafter, und ich wusste, dass ich, wenn ich jetzt weiter Druck machen würde, bestenfalls noch 2-3 km weiter käme. Dass der Muskel hier nicht "zugemacht" hatte, war wohl pures Glück. Er hatte mich nicht nur einmal gewarnt, sondern sogar schon zweimal. Das weiterhin zu ignorieren, wäre töricht gewesen. So begann ich schweren Herzens bei km 35 Tempo rauszunehmen und mich von der Sub3 zu verabschieden. Neues Ziel: Laufend ankommen!

km 36-40: Entspannt und zufrieden dem Ziel entgegen


Aus den 4:20-4:25er-Splits wurde erst eine 4:33, die Wende kam - mit dem Gegenwind! - dann eine 4:45, und ab km 37 hatte ich meinen Frieden mit mir selbst gemacht und lief nur noch um die 5:30/km. So ging ich auf die letzten fünf Kilometer.

Bei km 40 war ich schon schön gechillt...
Ich lief damit genau so schnell, dass der Muskel noch funktionierte, die Grenze hatte ich ganz gut im Gefühl. Dass er mich dann doch so weit getragen hatte, war ein großes Glück - wenn er bereits nach 25 km "aufgegeben" hätte, weiß ich nicht, ob ich die Nerven gehabt hätte, noch 17 km zu "walken".

Trotzdem ärgerte ich mich ein wenig, da ich von der Kondition her locker hätte in Richtung 2:56-2:57 laufen können. Doch wenn der Marathon ein Auto wäre, gehörte zu ihm nun mal nicht nur der Motor, sondern auch das Fahrgestell.

Der erste Ärger verflog schnell - ich genoss so eben die letzten  Kilometer und nahm die vielen tollen Eindrücke viel besser auf, als wenn ich im "Tunnel" gerannt wäre.

Mir blieb auch noch die Zeit, mit einigen Fans abzuklatschen, die Begeisterung war groß und der Enthusiasmus richtig spürbar. Bei der Getränkeausgabe leistete ich mir sogar mal den Luxus, stehenzubleiben und in Ruhe meinen Becher leer zu trinken.

km 41-42,195: Endlich da!

Finish! (Foto: Isaak Papadopoulos)

Dann hatte ich die letzte Schleife beendet, ungefähr bei km 41 an der Ecke des Hiboya-Parks zum Kaiserpalastgelände verabschiedete ich mich endgültig vom Gegenverkehr. Die Läufer, die mir hier kurz nach dem 30-km-Marker in Massen entgegenkamen, liefen auf eine Endzeit von 4:15 Stunden hin - und wirkten wunderbar entspannt. Da hatte ich gut 45 Minuten vorher sicher gequälter ausgesehen!

Der letzte Kilometer war besonders schön - wir liefen durch eine enge Gasse, an deren Ende nach einer Linkskurve das Ziel direkt vor uns lag - hinter uns der Bahnhof.

Nach dem Zieldurchlauf war ich erst mal total glücklich, dass es zu einem respektablen Finish gereicht hatte. Gern hätte ich meine Serie mit Sub3-Majors, die 2012 in Berlin begann, fortgesetzt.

Aber ich erinnerte mich auch daran, dass mein erster Major (Berlin 2011) eben auch kein Sub3-Marathon, dabei trotzdem toll gewesen war - und mir erst ermöglicht hatte, es 2012 dann doch noch zu schaffen, in einer Bestzeit, die bis heute gehalten hat.

Direkt nach dem Ziel hatte man einen schönen Blick in Richtung Kaiserpalast, die Straße, über die wir dabei liefen, ist normalerweise nur dem Kaiser vorbehalten, hatte Achim erzählt. Also schön respektvoll weitergehen, nicht spucken (!), vorbei an zahllosen Helfern, die einem gratulierten, dass es einem fast schwindling wurde. Wir wurden sofort versorgt mit Wasser, isotonischen Getränken, einem Handtuch, einer Alufolie zum Warmhalten, noch mehr Essen, und überall: "Congratulations, Congratulations, Congratulations!". Das kam echt von Herzen, das merkte man.

Das Objekt der Begierde! (Foto: Isaak Papadopoulos)
Dann kam die Medaille! Wir wurden weitergeleitet in den Hibuya-Park, dort bekam man seinen Kleiderbeutel und konnte sich umziehen, und weiter ging's. Ich hab mir angewöhnt, nach dem Marathon ein paar andere Laufschuhe anzuziehen, wenn möglich - das tut den Füßen gut, und meine taten weh.

Kurz darauf gab's ein Fußbad, noch mehr Essen, dann noch eine Massage - nicht nur für die ersten 2.000, sondern für alle, und wie alles perfekt organisiert. Kaum Wartezeiten, ich hätte auch eine Akupunktur wählen können, einfach Spitze! Das Mühsamste an allem war noch, auf die Hunderte von Glückwünschen zu reagieren - aber das machte natürlich keinem was aus.

Auf der Post-Marathon-Party: Thunfischsezierung live!

Ich suchte mir die nächste U-Bahn-Station, nahm auch die erste U-Bahn, die ich bekam, und suchte mir dann im Zug den ersten Anschluss an die Oedo-Linie. Zwanzig Minuten später war ich dann im Hotel, wo ich mir erst mal ein schönes Bad einließ, meine Familie anrief und online auf die ersten Gratulanten reagierte.

Abends ging's dann mit der Gruppe zur "After Run Party", einen kleinen Luxus, denn ich mir gegönnt hatte, und der sein Geld absolut wert war. Die ausgelassene Stimmung, das gute Essen und die tolle Show im Happo-En schlossen den Tag angemessen ab.

Zahlen, Daten, Fakten


 An meiner Marschtabelle sieht man ziemlich genau, dass ich einen recht gleichmäßigen Marathon lief, der auch im Rahmen meiner Möglichkeiten für ein Sub3-Finish lag - bis km 35 eben. Auch die Auswertung der Pulsentwicklung zeigt gute Werte, die mir für die Zukunft Mut machen. Bis zum Halbmarathon war alles perfekt, dann stieg die Pulskurve zwar an, aber durchaus noch in machbare Bereiche.

Die Entwicklung war ähnlich wie in Berlin 2012, als ich bei km 28-30 erstmal in Bereichen knapp unter 160 lief, dann aber den Puls über 160 locker halten und mich tempomäßig sogar noch steigern konnte. In der ersten Hälfte war ich in Tokyo sogar noch niedriger unterwegs (Berlin 155, Tokyo 153), obwohl ich sogar ein wenig schneller gewesen war.

Wie gesagt, hätte, hätte, Fahrradkette. Vor Berlin konnte ich mich im angenehmen Spätsommer vorbereiten und nicht wie jetzt bei teilweise Minustemperaturen. Das wird schon einen Unterschied gemacht haben. Sei's drum!

Bericht in der Saarbrücker Zeitung
Ausgabe vom 28.02.2017 / NK
In der Rangliste bedeutete das Platz 2080 von 34.491 Starterinnen und Startern, die ankamen, bei den Männern Platz 1892 von 25598, in der Altersklasse (45-49) Platz 324 von 6016, und unter den 153 Deutschen Platz 9 (netto war es sogar der achte, aber der Andre Sperber, der netto 28 sec. langsamer war als ich, war eine Minute vor mir über die Startlinie gegangen und daher 32 sec. vor mir über die Ziellinie gelaufen).

Hinter den fünften MajorSix-Marathon kann ich jetzt einen Haken machen - und Berlin bin ich, wie gesagt, ja auch erst im zweiten Versuch unter drei Stunden gelaufen!

Die Bilanz von #tokyo2018: Knapp 74 Stunden, fast 850km, nahezu 590.000 Pulsschläge und beinah 55.000 kcal.

Nächstes Marathonprojekt: #london2019! Ich werde früh versuchen zu buchen und hoffen, dass ich einen der begehrten Startplätze bei interair ergattern kann. Wenn ich es dort nicht unter drei Stunden schaffe, feiere ich eben meine "Major-Six-Medaille" ab und beende dieses Projekt mit immerhin vier der sechs Majors unter drei Stunden. Aber falls ich in London wieder Sub3 laufe, da bin ich sicher, heißt es irgendwann:


もう一度会いましょう、東京!


Mōichido aimashō, Tōkyō! 
Wir sehen uns wieder, Tokyo!

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