Sonntag, 25. September 2011

Unter 3h? Nein, nicht ganz. Zufrieden? Absolut! - (Mein) Berlin-Marathon


Am Anfang war die Jagd. Tagelang waren die Männer durch die Steppe gelaufen. Sie wurden Staub, Hitze, Glut und Eis, sie wurden Gras und Schnee. Sie liefen ausdauernder als irgendein anderes Tier. Sie liefen dem Tier hinterher und wurden dadurch zu Menschen. Sie jagten, sie trugen Waffen, sie waren Läufer und ihre Füße und Herzen wetteiferten mit dem Wind.
Und jetzt sitzen wir hier. Sind mit Schreibtischen und Stühlen verwachsen. Sofas und Sessel sind neue Extremitäten und unser Herz ist ein lustlos pumpender bürokratischer Beutel. Unsere Karrieren sind chloroformierte Abenteuer, wir sind Papier, unsere Siege sind das Öl im Getriebe.

Besser kann man es eigentlich nicht beschreiben, was einen "Bürohengst" wie mich motiviert, Marathon zu laufen, als Torsten Körner es in diesem hervorragenden Essay im Kulturteil des Berliner Tagesspiegels vom 25.09.2011 tut. Ich habe es selbst versucht, in meinem Blog zum Marathon in St. Wendel 2010, aber der Journalist kann's nun mal besser...

Mein dritter Marathon nach Frankfurt 2009 und St. Wendel 2010 sollte nach meiner Wunschvorstellung der erste werden, bei dem ich die magische Marke von 3:00:00 unterbieten wollte. Zumindest aber mein persönliche Bestzeit von 3:09:23 (St. Wendel 2010) sollte fallen und mir die Qualifikation für den NYC-Marathon 2012 bringen (dazu muss man in meinem Alter unter 3:10h laufen).

Zur Vorbereitung:

Ich wußte, daß ich mir ein sehr ambitioniertes Ziel gesetzt hatte. Bereits letztes Jahr wollte ich in Berlin starten, nachdem ich bis dahin ein sehr gutes und intensives Laufjahr in den Beinen hatte (und auch viel und intensiv Rennrad gefahren war, u.a. den Tannheimer Tal-Radmarathon und eine 180-km-Tour auf den Mont Ventoux).

Fachmännisch repariert, aber trotzdem Berlin-Killer 2010:
Plattenosteosynthese rechte Clavicula
Dann befiel mich jedoch die Verletzungsseuche: Im August Schlüsselbeinbruch beim Radfahren, vier Wochen Laufpause, Berlin damit gestorben. Nach der Wiederaufnahme des Lauftrainings Achillessehnenreizung (aber immerhin vorher noch eine persönliche Bestleistung über die 10-Meilen-Strecke beim PSV-Lauf in Marienfelde/Berlin), wieder Pause, danach Weihnachten, Skiurlaub, Kreuzbandriss. So kamen vom September 2010 bis zum Mai 2011 nur knapp 300 Laufkilometer zusammen.

Beim Test-HM entlang der Blies
Trotzdem nahm ich optimistisch das Lauftraining auf, wenn ich auch wegen des Knies behutsam anfing. Ein kleiner Rückschlag nach einer Überreizung, ansonsten lief die Vorbereitung gut an, und Mitte Juni/Anfang Juli ging ich dann in die Vollen und absolvierte mein Trainingsprogramm nach der Anleitung des ehemaligen deutschen Meisters über 10 km, Jens Karraß.

Die Vorbereitung lief erfreulicherweise unspektakuär und ohne größere Probleme. Dank der guten Hilfe meines Orthopäden bekam ich auch leichte Schmerzen im linken Knöchel in den Griff (neue Einlagen und ein Supertrick: Bahneinheiten in umgekehrter Richtung laufen!).

Am 28.08. lief ich noch einen Test-Halbmarathon, der, wenn es ein Wettkampf gewesen wäre, persönliche Bestzeit bedeutet hätte.


Zum Rennen:

Freitags vor dem Marathon reiste ich mit der Familie an. Wir fuhren mit dem Zug, waren abends (recht spät) in Berlin, ein guter Freund stellte mir seine Dienstwohnung am Potsdamer Platz zur Verfügung. Das war perfekt, von dort bis zum Start waren es nur knapp 1 km, das verhieß eine bequeme Planung des Renntages. Wir gingen dann auch gleich ins Bett und schliefen Samstags gut aus, ehe wir den ganzen Tag mit Essen (Carbo-Loading), Sightseeing und dem Besuch der Marathon-Messe in Tempelhof beschäftigt waren. Abends ging's zeitig ins Bett.

Kurz vor dem Start
(Dieses und alle folgenden Fotos: Claudia Thomas)
Am "Race Day" war ich schon - nervös - früh auf und aß bereits um 6 Uhr mein Müsli, damit ich die leerungstechnischen Voraussetzungen für einen erfolgreichen und störungsfreien Marathon schaffen konnte.

Der Coach hatte mich vorgewarnt: Das Wetter sei tückisch. Und das war es auch: Am Morgen gegen 08.30 Uhr noch recht angenehm, aber gegen 11 Uhr schon superwarm, und vor allem mit einer ungebremst knallenden Sonne. Doch dazu später mehr...

Die Familie frühstückte dann etwas später, ich machte mich auf zum Start. Kleiderbeutel abgeben, und los zum Block D, wo die Läuferinnen und Läufer stehen sollten, die bisher Zeiten von 3:00-3:15 gelaufen waren. Block C war für Läufer mit einer kürzlich gelaufenen 2:50-3:00, B für solche mit 2:40-2:50, A für schnellere.

Diese Einteilung hat verschärften Sinn: Marathonläufer sollen eigentlich auf den ersten 30 km ein durchgängiges Tempo laufen, und nicht durch langsamere Läufer gebremst werden bzw. selbst schnellere Läufer bremsen. Das haben aber offenbar viele beim Berlin-Marathon nicht verstanden bzw. den Organisatoren ist es nicht gelungen, die fehlende Disziplin der Läufer zu kontrollieren bzw. zu sanktionieren.

Denn wie ich beim Start merkte, standen in meinem Block und davor massenhaft Läufer, die Zeiten liefen, die bestenfalls für Endzeiten oberhalb von 4 Stunden "geeignet" waren. Das war schon massiv ärgerlich. Denn so hatte ich große Probleme, meine Zeitvorgabe von 4:14/km einzuhalten. Allein der erste km war eine 4:30, und auch danach ging es mal schnell, mal langsam, aber nie gleichmäßig. Ich musste hoppeln wie ein Hase, mir Lücken suchen, durch die ich stoßen konnte, und das kostet natürlich Kraft. Erst bei km 5, der ersten "Wasserstelle", entspannte sich die Situation ein kleines bisschen, aber nicht so richtig. Immerhin konnte ich jetzt damit anfangen, mit einem leicht verschärften Tempo ein bisschen von dem Rückstand "abzuschälen", was aber natürlich auch Kraft kostete. Erst ab km 10 konnte ich ungestört mein Tempo laufen.

Meine beiden "Prinzessinnen" fieberten mit:
Amelie und Annabelle
Trotzdem fühlte ich mich gut. Und Berlin aus dieser Perspektive zu erleben, ist wahnsinnig interessant. Die Eindrücke fliegen einem einfach nur so entgegen und beanspruchen auch den Kopf. Wahnsinn. Ein Beispiel: Man läuft nach Moabit am Hauptbahnhof bzw. Kanzleramt vorbei (so ca. km 6), und die Stadt verändert sich Stück für Stück. Aus West wird Ost, bis man auf einmal am Alexanderplatz ist, links abbiegt in die Karl-Marx-Allee und meint, 25 Jahre in die Vergangenheit gereist zu sein. Und das alles innerhalb von 5 km.

Und schon ging's, nach einer Teilstrecke durch die Mitte, die keine besonders bleibenden Eindrücke hinterließ (außer der Passage von km 14 in der Heinrich-Heine-Straße, wichtig für den Kopf: 1/3 ist geschafft), rein nach Kreuzberg. Kurz nach km 19 war der Mehringdamm, hier war ich gestern noch mit der Family Nudeln essen und den Skatern zusehen. Tolles Gefühl, und die Beine waren gut, ich war drauf und dran, wieder zeitlich "auf Kurs" zu kommen. Die letzten km: 4:10, 4:13, 4:14, 4:13, 4:14. Na also!

Mein "Fanclub": Annabelle, Jan-Robin, Amelie und Doris
Trotzdem beschlich mich hier schon ein leicht ungutes Gefühl. Ich merkte, daß die "Aufholjagd" Kraft gekostet hatte, aber die Aussicht auf die bald erreichte Halbmarathonmarke und die gute Zeit vertrieben (noch) diese finsteren Gedanken. Allerdings wurde es immer wärmer, vor allem in der Sonne, die, von Wolken ungebremst, vom Himmel brannte. Die ersten mussten dem Tempo Tribut zollen. Gehpausen, ausgestiegene Läufer am Straßenrand. Nicht gut.

In der Goebenstraße dann die Halbmarathonmarke. Ich liege absolut auf Kurs und kann das Tempo noch gut halten. In Schöneberg, bei km 24 am Innsbrucker Platz stehen unter der Eisenbahnbrücke ca. 20 Trommler. Beeindruckend, aber ihr Sound erinnert mich eher an eine Sklavengaleere, anstatt mich aufzubauen. Rein geht's nach Friedenau, und bei km 25 kommen sie: Die ersten Schwächeanzeichen. Die Zeiten werden langsamer, unregelmäßiger, 4:21, 4:12, 4:19, 4:19. Ich fang schon an, mich anzustrengen, eigentlich ein paar km zu früh. Nach einer alten Weisheit beginnt der Marathon bei km 32, alles andere ist Warmlaufen. Schön ist, daß meine Familie mittels "U-Bahn-Hopping" den Weg  zum Friedrich-Wilhelm-Platz gefunden hat. Das baut dann doch auf.







Bei km 26 ging's noch...




An der Stelle, wo Haile platzte (Breitenbachplatz), habe ich mein erstes Zwischentief scheinbar überwunden. Ab km 29 laufe ich Zeiten von 4:09, 4:14, 4:09, 4:14, 4:11, 4:11. Das sah gut aus, aber ich merkte schon: Ich muss drücken, der Puls wandert über 160. Was nicht so schlimm ist, doch die Beine gaben klare Signale: "Wir machen das hier noch ein paar km mit, aber keine 12 mehr".

In Schmargendorf kämpfe ich meinen letzten Kampf, versuche das Tempo zu halten in der Hoffnung auf die zweite bzw. sogar schon dritte Luft. Bei km 33,5, in Wilmersdorf kurz vorm Kurfürstendamm, steht mein Coach Jens Karraß mit einem geilen Schild: "Heul doch!" Das baute mich wieder ein bisschen auf, ich klatsche ihn ab, weiter geht's.

Aber nun wird mir immer klarer: Das reicht nicht für die Zeit unter 3:00. Trotz erhöhter Anstrengung werden die km-Zeiten langsamer: 4:18, 4:19. Bei km 36, an der U-Bahn-Station Wittenbergplatz beim KaDeWe, dann die Einsicht: Das hier hältst Du keine 6,295 km mehr durch. Oder du probierst's, kriegst einen Krampf oder schlimmer und musst aufgeben. Hinzu kommt die Sonne, die nun gnadenlos vom Himmel brennt: Gefühlte 30 Grad. Im Schatten lässt sich's erträglich laufen, aber sobald man wieder "ans Licht kommt", brennt der Planet.

Beim Brandenburger Tor
Ich kenne meinen Körper gut, die Einsicht kehrt ein und ich lasse etwas "kommen". Die Beine bedanken sich und schalten sofort auf "Erhaltungsmodus" um: 4:39, 4:51, 4:50. Ich mache meinen Frieden mit dem Verpassen des 3h-Zieles, denke an meine neue persönliche Bestzeit und passiere den Potsdamer Platz. Trotzdem zieht sich die Leipziger Straße, und wie die Körperspannung weicht, kommt der Schmerz. Ein letzter Versuch, wenigstens alle km unter 5:00 zu laufen, scheitert. Durch Jerusalemer Straße, Mohrenstraße, Gendarmenmarkt, Französische Straße und Ginkastraße bis zu "Unter den Linden" geht's mit einer 5:01 und einer 5:11.

Jetzt noch mal alle Kräfte mobilisieren: Ich sehe die Kollegin Pfiffi mit Familie auf dem letzten km vorm Hotel Adlon, Davina hat am Tag zuvor beim Mini-Marathon für die Saarländische Schulmannschaft über 4,2 km mit einer 17:37 eine tolle Zeit erlaufen, Glückwunsch! Viertbeste Mannschaftszeit, Zweiter Platz für das Saar-Team hinter Potsdam. Super!

Kurz vor'm Ziel kommt auch die Lockerheit wieder:
Da kann man auch mal winken...
Noch 400m, vor mir das Brandenburger Tor. Jetzt kommt wieder etwas Kraft in die Beine zurück, als wolle der Körper sagen: "Danke, daß Du auf mich gehört hast!" Ich kann so mit einigermaßen angemessenem Tempo unter der Quadriga durchlaufen, rechts stehen Doris und die Kinder, jetzt bin ich einfach nur noch glücklich und gebe auf den letzten 300m nochmal alles. Musste auch sein, immerhin muß man ja im Fernsehen einen guten Eindruck machen...

Am Ende steht eine 3:03:54 (4:21/km), Platz 1439 (361. M40) unter 32997 Finishern, Weltrekord um 1:00:16 verpasst ;-). 1:29:51 für die erste Hälfte, 1:34:03 für die zweite. Und eine Durchschnittsgeschwindigkeit von 13,77 km/h.


Splits:

   5 km: 00:21:31
 10 km: 00:42:51
 15 km: 01:04:04
 20 km: 01:25:14
 25 km: 01:46:40
 30 km: 02:08:01
 35 km: 02:29:15
 40 km: 02:53:07


Erste Glückwünsche...
Ich bin trotzdem sehr zufrieden, hatte eigentlich erwartet, dass irgendwann die Enttäuschung über das verpasste Sub3-Finish einkehrt, aber nix da. Man muß Realist sein. Man sieht zwar an den Splits, daß ich bis km 35 sogar 3 Sekunden unter der Pace für eine Zeit unter 3 Stunden (02:29:18) lag, aber wie gesagt, bei km 36 war der Tank einfach alle, keine Kraft mehr da. Die Pumpe konnte, der Kopf wollte, aber die Beine haben nicht mehr mitgemacht.

Danke, Jungs!
Ihr wart gut zu mir...
Positives Fazit: Dritter Marathon, wieder persönliche Bestzeit verbessert, diesmal um 5:29 min. Bald fällt die 3-Stunden-Marke!

Ab durch die Verpflegungszone, trinken, trinken, trinken. Leichtes Auslaufen, Hunger hab ich wenig, ein paar Kekse zwinge ich mir auf. Danach duschen, und die nächste Überraschung: In Berlin gibt's - im Gegensatz zu Frankfurt und St. Wendel - die Massagen ungeduscht, und auf eine lange Schlange hab ich jetzt keine Lust. Nix wie ab zur Familie, die mich glücklich und erleichtert empfängt.

Momentan tut mir alles weh, aber das läßt von Minute zu Minute nach. Der Schmerz geht, der Stolz bleibt. Direkt danach ein "Hintergrundgespräch" mit Günter Wettlaufer vom FORUM. Saarländische Erinnerungen ausgetauscht und mal wieder 5 neue gemeinsame Bekannte ausgegraben...

Wir bereiten uns langsam auf die Heimreise vor, den tollen Empfang in der Saarländischen Landesvertretung verpasse ich leider, der Zug geht, die Kinder müssen morgen in die Schule.

Aber Berlin war in jedem Fall eine Reise wert! Ein toller Marathon, und ich überlege ernsthaft, ob ich nicht nächstes Jahr nochmal hier starten soll, anstatt mit der erreichen Qualifikation (unter 3:10h bin ich ja dann doch geblieben) für 2012 exclusiv den NYC-Marathon anzugehen...

Weitere Links:


Meine Garmin-Aufzeichnung vom Berlin-Marathon 2011
Videos von der Homepage des Berlin-Marathons


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